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Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi über Familie
Alle glücklichen Familien gleichen
einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.
Anna Karenina
Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi russischer
Schriftsteller * 09.09.1828, † 20.11.1910
Gedanken zum Zitat von Christa Schyboll
Leo Tolstoi wusste viel über Glück und
Unglück. Er litt mit seiner sensiblen Seele und seinen eigenen hohen und
hehren Ansprüchen an seine mitmenschliche Umgebung auch innerhalb der
eigenen Familie. Zudem kannte er sich mit den Abgründen der Seele aus,
wusste um das schwere Ringen der Menschen mit und untereinander und auch um
sich selbst. So war er auch aus eigener Erfahrung und Wahrnehmung Kenner der
komplizierten Innenverhältnisse, die über Glück oder Unglück in einer
Familie mit eine entscheidende Rolle spielten.
In was aber gleichen sich die glücklichen Familien untereinander? Ist es das
äußere Bild einer Geschlossenheit, das sie uns zeigen? Ist dort etwa niemand
des anderen Feind? Neidet keiner dem Nächsten was auch immer? Sind die nicht
unüblichen Eifersüchteleien auf dieses oder jenes dort tatsächlich gänzlich
unbekannt, so wie auch die häufig anzutreffende Lust auf eine gewisse
Vormachtstellung bestimmter Charaktere? Oder handelt es sich bei glücklichen
Familien vielleicht auch nur um eine Scheinwirklichkeit? Um eine Oberfläche,
die den tiefen Blick eines Außenstehenden nicht zulässt. Oder haben gar im
Hause des Glücks solcher Clans bereits alle Mitglieder der Familie ein so
hohes Bewusstsein erlangt, dass sie von den Widrigkeiten des Unglücks der
meisten anderen Familien schon vollkommen befreit sind? Fast möchte man sich
fragen, ob Tolstoi, der feine Menschenbeobachter überhaupt eine glückliche
Familie je gekannt hat oder eine solche in diesem Zitat als nur theoretisch
möglich voraussetzte.
Der zweite Teil seines Zitats zeigt jedoch den Kenner der Wirklichkeit.
Seine Wahrnehmung auf die Verschiedenartigkeit, wie Unglück sich in jeder
einzelnen Familie sich ereignen kann, hat er unter anderem auch in seiner
grandiosen Weltliteratur niedergeschrieben. Hier kommt das Individuelle der
Empfindungen zum Zuge und zeugt von der unendlichen Möglichkeit menschlicher
Gefühle, die vor allem im Verhältnis der zwischenmenschlichen Nähe ihre
Bandbreite entfalten.
Schaut man genau hin, so ist bei allem mitempfundenen oder erlebten Leid in
jeder Familie eine eigene Note oder Nuance zu erkennen, die in jedem
Einzelfall auch einzigartig ist und es unverwechselbar mit anderen
Schicksalskonstellationen erscheinen lässt.
Parameter für Zufriedenheit und Glück
Glück und Unglück sind wie Krieg und Frieden ein immerwährend wechselnder
Prozess im Zeitenlauf. Keiner der Zustände ist von Dauer. Immer wieder neu
wird Aufgang, Höhepunkt und Untergang erlebt, der jeweils den einen Zustand
zum anderen hin kippen lässt. Es stellt sich die Frage, warum wir aus dem
immer wieder neu wiederholten Erleben von Glück und Unglück denn nicht das
Notwendige lernen? Warum ziehen wir nicht jene Schlüsse daraus, die das Maß
des Unglücks minimieren und das Maß des Glücks mehren?
Schaut man sich wachsam den Zustand der Mitmenschen an, so kann man
feststellen, dass es einer Reihe von ihnen sogar hin und wieder gelingt. Bei
ihnen scheint sich so etwas wie nachhaltiges Glück zu ereignen. Vielleicht
wäre der Begriff einer tiefen Zufriedenheit, die jedoch auch als Glück
empfunden wird, noch treffender. Menschen, die mit sich und der Welt im
Reinen sind, werden automatisch auch das Maß des persönlichen Unglücks im
Leben herunter senken können.
Doch Alter und Weisheit in unzertrennlicher Kombination sind keineswegs
Automatismen, die sich ereignen. Das zeigen uns all jene verknöcherten alten
Menschen, die bis zum Tod uneinsichtig bleiben, stur, launisch und selbst
widerspenstig gegen den Rest ihres eigenen kurzen Lebens sind. Hier hat sich
aus dem gelegentlichen Erleben von Glück keine Erkenntnis geformt.
Vielleicht, weil das Glück einfach zu selten erlebt wurde? Vielleicht, weil
das Unglück in der eigenen Familie zu dominant war, um die Alternative
bewusst anstreben zu können? Fehlte die persönliche Anschauung in der
eigenen Umgebung oder war das eigene Werkzeug nicht vorhanden?
Familien sind mit ihren schon frühkindlich bestimmenden Prägungen, ihren
inneren Konstellationen der Charaktere und Beziehungen untereinander, ihren
geheimnisvollen ungeschriebenen Gesetzen mächtige Parameter für alle
Menschen, die ihre spätere Beziehung zu Glück und Unglück beeinflussen.
Wer das Glück hat, in eine Familie hineingeboren zu werden, die sich dem
Glück immer wieder neu und gern verschreibt, es dankbar und bewusst annimmt
und auch den Kindern schon früh das Bewusstsein dafür schärft, wird die
natürlichen Phasen des Unglücks im Leben leichter meistern… zum Glück für
eine spätere nachhaltig verankerte Zufriedenheit.
Übernommen von "Gut zitiert"
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