|
|
|
|
... sich fallen lassen "...Draußen, weit im See,
zog er die Ruder ein. Es war nun soweit, und er war zufrieden. Früher hatte
er, in den Augenblicken, wo Sterben ihm unvermeidlich schien, doch immer gern
noch ein wenig gezögert, die Sache auf morgen verschoben, es erst noch einmal
mit dem Weiterleben probiert. Davon war nichts mehr da. Sein kleines Boot,
das war er, das war sein kleines, umgrenztes, künstlich versichertes Leben -
rundum aber das weite Grau, das war die Welt, das war All und Gott, dahinein
sich fallen zu lassen war nicht schwer, das war leicht, das war froh. Er setzte sich auf den Rand
des Bootes nach außen, die Füße hingen ins Wasser. Er neigte sich langsam
vor, neigte sich vor, bis hinter ihm das Boot elastisch entglitt. Er war im
All. In die kleine Zahl von
Augenblicken, welche er von da an noch lebte, war viel mehr Ereignis gedrängt
als in die vierzig Jahre, die er zuvor bis zu diesem Ziel unterwegs gewesen
war. Es begann damit: Im Moment, wo
er fiel, wo er einen Blitz lang zwischen Bootsrand und Wasser schwebte,
stellte sich ihm dar, dass er einen Selbstmord begehe, eine Kinderei, etwas
zwar nicht Schlimmes, aber Komisches und ziemlich Törichtes. Das Pathos des Sterbenwollens und des Sterbens selbst fiel in sich
zusammen, es war nichts damit. Sein Sterben war nicht mehr notwendig, jetzt
nicht mehr. Es war erwünscht, es war schön und willkommen, aber notwendig war
es nicht mehr. Seit dem Moment, seit dem aufblitzenden Sekundenteil, wo er
sich mit ganzem Wollen, mit ganzem Verzicht auf jedes Wollen, mit ganzer
Hingabe hatte vom Bootsrand fallen lassen, in den Schoß der Mutter, in den
Arm Gottes - seit diesem Augenblick hatte das Sterben keine Bedeutung mehr.
Es war ja alles so wunderbar leicht, es gab ja keine Abgründe, keine
Schwierigkeiten mehr. Die ganze Kunst war: sich fallen lassen! Das leuchtete
als Ergebnis seines Lebens hell durch sein ganzes Wesen: sich fallen lassen!
Hatte man das einmal getan, hatte man einmal sich dahingegeben, sich
anheimgestellt, sich ergeben, hatte man einmal auf alle Stützen und jeden
festen Boden unter sich verzichtet, hörte man ganz und gar nur noch auf den
Führer im eigenen Herzen, dann war alles gewonnen, dann war alles gut, keine Angst
mehr, keine Gefahr mehr. Dies war erreicht, dies Große,
Einzige: er hatte sich fallen lassen! Dass er sich in Wasser und in den Tod
fallen ließ, wäre nicht notwendig gewesen, ebenso gut hätte er sich ins Leben
fallen lassen können. Aber daran lag nicht viel, wichtig war dies nicht. Er
würde leben, er würde wieder kommen. Dann aber würde er keinen Selbstmord
mehr brauchen und keinen von all diesen seltsamen Umwegen, keine von all
diesen mühsamen und schmerzlichen Torheiten mehr, denn er würde die Angst überwunden
haben. Wunderbarer Gedanke: ein Leben
ohne Angst! Die Angst überwinden, das war die Seligkeit, das war die
Erlösung. Wie hatte er sein Leben lang Angst gelitten, und nun, wo der Tod
ihn schon am Halse würgte, fühlte er nichts mehr davon, keine Angst, kein
Grauen, nur Lächeln, nur Erlösung, nur Einverstandensein. Er wußte nun plötzlich, was Angst ist, und dass sie nur von
dem überwunden werden kann, der sie erkannt hat. Man hatte vor tausend Dingen
Angst, vor Schmerzen, vor Richtern, vor dem eigenen Herzen, man hatte Angst
vor dem Schlaf, Angst vor dem Erwachen, vor dem Alleinsein, vor der Kälte,
vor dem Wahnsinn, vor dem Tode - namentlich vor ihm, vor dem Tode. Aber all
das waren nur Masken und Verkleidungen. In Wirklichkeit gab es nur eines, vor
dem man Angst hatte: das Sichfallenlassen, den
Schritt in das Ungewisse hinaus, den kleinen Schritt hinweg über all die
Versicherungen, die es gab. Und wer sich einmal, ein einziges Mal hingegeben
hatte, wer einmal das große Vertrauen geübt und sich dem Schicksal anvertraut
hatte, der war befreit. Er gehorchte nicht mehr den Erdgesetzen, er war in
den Weltraum gefallen und schwang im Reigen der Gestirne mit. So war das. Es
war so einfach, jedes Kind konnte das verstehen, konnte das wissen. Er dachte dies nicht, wie man
Gedanken denkt, er lebte, fühlte, tastete, roch und schmeckte es. Er
schmeckte, roch, sah und verstand, was Leben war. Er sah die Erschaffung der
Welt, er sah den Untergang der Welt, beide wie zwei Heerzüge beständig
gegeneinander in Bewegung, nie vollendet, ewig unterwegs. Die Welt wurde
immerfort geboren, sie starb immerfort. Jedes Leben war ein Atemzug, von Gott
ausgestoßen. Jedes Sterben war ein Atemzug, von Gott eingesogen. Wer gelernt
hatte, nicht zu widerstreben, sich fallen zu lassen, der starb leicht, der
wurde leicht geboren. Wer widerstrebte, der litt Angst, der starb schwer, der
wurde ungern geboren. Im grauen Regendunkel über dem
Nachtsee sah der Untersinkende das Spiel der Welt gespiegelt und dargestellt:
Sonnen und Sterne rollten herauf, rollte hinab, Chöre von Menschen und
Tieren, Geistern und Engeln standen gegeneinander, sangen, schwiegen,
schrien. Züge von Wesen zogen gegeneinander, jedes sich selbst mißkennend, sich selbst hassend, und sich in jedem andern
Wesen hassend und verfolgend. Ihrer aller Sehnsucht war nach Tod, war nach
Ruhe, ihr Ziel war Gott, war die Wiederkehr zu Gott und das Bleiben in Gott.
Dies Ziel schuf Angst, denn es war ein Irrtum. Es gab kein Bleiben in Gott!
Es gab keine Ruhe! Es gab nur das ewige, ewige, herrliche, heilige Ausgeatmetwerden und Eingeatmetwerden,
Gestaltung und Auflösung, Geburt und Tod, Auszug und Wiederkehr, ohne Pause,
ohne Ende. Und darum gab es nur Eine Kunst, nur Eine Lehre, nur Ein
Geheimnis: sich fallen lassen, sich nicht gegen Gottes Willen sträuben, sich
an nichts klammern, nicht an Gut noch Böse. Dann war man erlöst, dann war man
frei von Leid, frei von Angst, nur dann. Sein Leben lag vor ihm wie ein
Land mit Wäldern, Talschaften und Dörfern, das man vom Kamm eines hohen
Gebirges übersieht. Alles war gut gewesen, einfach und gut gewesen, und alles
war durch seine Angst, durch sein Sträuben zu Qual und Verwicklung, zu
schauerlichen Knäueln und Krämpfen von Jammer und Elend geworden! Es gab
keine Frau, ohne die man nicht leben konnte - und es gab auch keine Frau, mit
der man nicht hätte leben können. Es gab kein Ding in der Welt, das nicht
ebenso schön, ebenso begehrenswert, ebenso beglückend war wie sein Gegenteil!
Es war selig zu leben, es war selig zu sterben, sobald man allein im Weltraum
hing. Ruhe von außen gab es nicht, keine Ruhe im Friedhof, keine Ruhe in
Gott, kein Zauber unterbrach je die ewige Kette der Geburten, die unendliche
Reihe der Atemzüge Gottes. Aber es gab eine innere Ruhe, im eigenen Innern zu
finden. Sie hieß: Lass dich fallen! Wehre dich nicht! Stirb gern! Lebe gern! Ausschnitt aus Klein und Wagner, von Hermann Hesse |
|
|
|
|