Meine erste Revolution

 Es dauert manchmal doch geraume Zeit, bis dass man erkennt, dass der Nikolaus kein Heiliger, sondern  ein Mensch - und der Grampus  - ein Arschloch ist. Jaja aber bestimmt kein Dämon. Die Angst vor jenen Herrn das ist ein Stück guter alter Tradition, und auch die Wirkung dieser Angst die ja Generationen von Bettnässern erzeugte.
Ich war noch ziemlich klein und die Macht der Nikolaustradition war damals ungebrochen. Die Grampusse - sie klirrten mit Ketten, sie waren in Felle gehüllt und in ihren russigen Gesichtern spiegelte sich das tierische Vergnügen mit dem Ochsenfiesl sauber zuhaun zu können. Und hämisch fragten einen immer die Erwachsenen:
Und wos is? Ha. Wor er scho do? Wor er scho do ha? Der Nikola?
Bist allwei brav gwesn? Sauhund!
Sonst kimmst nei in Sack!
Ich muss gestehen ich hätte es damals wirklich nicht für möglich gehalten, dass man tatsächlich in einen Sack hineingestopft wird. Wegen Unbravheit. Aber mein damaliger Kind-Kollege der Ismaier Manfred er hat es eigenhändig berichtet. Damals auf dem Land, da wussten wir noch nichts von so devoten Kaufhausnikoläusen- von so CocaColaSchlümpfen und von der pädagogischen Einbahnstraße die der Grampus als Erziehungsparameter darstellt.
 Also ich weiß es ziemlich genau – es war der 6. Dezember 1949 so gegen 19:00 Uhr als sich ein Stiergehörnter auch meiner bemächtigte. Und obwohl ich die donnernde Frage des heiligen Nikolaus: Bist du auch immer schön brav gewesen? eindeutig und wahrheitsgemäß mit Ja beantwortet hatte. Ich wurde in einen Sack hinein gestopft. Ketten klickten klackten und rasselten, Schweine grunzten und Ratten pfiffen als ich dann im Sack an einem Haken im Saustall aufgehängt wurde. Ich schrie eine Ewigkeit in dieser finstern Hölle des Onkel Hieronymus Bosch und manchmal da wache ich heute noch auf in der Nacht, fange an zu schwitzen, sehe wie der Grampus auf mich zukommt- und dann weiß ich es genau – ich habe eine Kindheit gehabt die kann mir so schnell keiner mehr nehmen.
Umständehalber  verließ ich dann das Land und kam in die Großstadt. Und zwar zu der Zeit als wiederum diese Existenzfrage : Bist du auch immer schön brav gewesen? im Raume stand. Ein ca. 8-jähriger Robespierre forderte mich den Neuling vom Land auf . „Und“, sagt er „was is? Gehst mit? Ha. Gehst mit am Nikolo an Bart ozündn? „
Mir wurde schwindlig.
Einem Nikolaus den Bart anzünden. Ja was heißt da einem? Es gibt doch bloß DEN Nikolaus- den heiligen Sankt Nikolaus. Und ihm den Bart anzünden. Ein ungeheuerliches Vorhaben. Vor kurzem selber noch vom Grampus gejagt, frisch einem noch feuchten Bett entwichen, überrollte mich die Frage des Großstadtrevolutionärs aufs Neue. Sie wirkte allerdings jetzt schon eine Spur gleichgültiger.
„Also was is jetza, gehst mit oder gehst net mit?“
„Sowieso“ hörte ich mich selber antworten.
 Mein Herz war in der Unterhose angelangt und kurz darauf standen wir schon vor unserer Bastille. Nämlich in München der Ecke Türken- Schellingstraße. Über 100 bis 200 Kinder bis an die Zähne mit Latten Stöcken Zwieseln und Steinen bewaffnet, harrten vor dem Portal des Studenten-Schnelldienstes der Nikoläuse.
Schon kam einer heraus.
Aus allen Kehlen erscholl ein: „  Pfui – Pfui !“. Ein Pfeifkonzert, kreischendes Hohngelächter, ein Gewitter von Wurfgeschossen entlud sich in Richtung Nikolaus welcher dann unwürdig behände auf einem Fahrrad das Weite suchte.
Da - ein neuer Schnelldienstheiliger wurde  auf die Straße gespuckt um Tradition zu verbreiten.
„Do – Do – do is scho wieda oana.“ jauchzten die jungen Revoluzzer im Kampfesrausch.
„Den mach’ ma fertig“ schrien sie.
Mein Genosse und Animator reichte mir jetzt feierlich sein Sturmfeuerzeug.
„Jetza“ sagt er „Jetza- jetzt san ma soweit. Gell. Jetzt zündn mia eam an  Bart o. Und mia gebn dir Rückendeckung“
Fest entschlossen meine jahrelange Demütigung mit einem Bartbrand zu rächen, lauf ich mit weichen Knien über die Straße - das Sturmfeuerzeug wie eine Fackel erhoben haltend. Schlachtengesänge wie „Nikolo- scheiß ins Klo“ tragen mich vor das entsetzte Gesicht des heiligen Mannes. Und wieder verdunkeln sich die Himmel vor lauter Zaunlatten, Hakenpfeilen, Wasserbomben und Eiern. Es herrscht Krieg. Der Nikolaus duckt sich, macht zwei drei schnelle Schritte und verschwindet in der Sicherheit des nahen Gemüseladens.
WUMS
BING
Da - ein  Fenster birst. Ein Schaufenster kaputt.
Johlen.
Der Nikolaus liegt auf dem Boden umgeben von Glas. Ein Splitter hat sein Gesicht verletzt.
Rotes Blut tropft ihm aus dem weißen Bart – er reißt ihn sich vom Kinn – und drückt ihn sich auf die Wunde. Ich sehe ein junges Gesicht voller Panik. Und jetzt rollt nach überwundener  Schrecksekunde der Gemüsehändler mit seiner enormen Wampen auf den Nikolaus zu und bespeit diesen mit einem Potpourri  von Unflätigkeiten worin er dem Wort Drecksau eindeutig den Vorrang gibt. Der Nikolaus entwindet sich dem Griff des Fetten und flieht aus dem Laden. Zum Glück trifft ihn sein eigener wie ein Speer nachgeschleuderter Krummstab nicht mehr.
Das Kinderheer auf der andren Straßenseite aber hat sich jetzt blitzschnell aufgelöst.
Und ich steh da.
Ich steh da mit dem blutleeren Daumen auf dem Sturmfeuerzeug.
Und dann.
Dann geh’ ich heim. Ich geh’ heim als Sieger. Sieger in einer Revolution deren Errungenschaften unumkehrbar sind.

 PS: Sachzwänge nötigen mich schon seit Jahren jetzt  am 6. Dezember in ein eindruckvolles stilechtes Nikolausgewand. Wirklich - Hand aufs Herz - ich versuche immer ein fairer aufgeschlossener geschenkbereiter psychologisch hieb und stichfester Heiliger zu sein. Nur immer wenn ich diese Frage stellen muss:“ Bist du auch immer brav gewesen“ beschleicht mich so ein merkwürdiges Gefühl. Trotzdem Schwamm drüber. Im nächsten Jahr bin ich schon wieder voll ausgebucht.

Gerhart Polt

Aus der Sendung vom 5.12.2010 BR